Essen macht high

Udo Pollmer „Opium fürs Volk" Essen macht high

Sie behaupten: Wir essen, weil unser Körper scharf auf Drogen ist und nicht etwa auf Gesundes wie Vitamine und Mineralstoffe?
Udo Pollmer: Drei Dinge entscheiden darüber, was wir essen: Erstens brauchen wir Energie, sprich Kalorien. Die Kalorie ist nicht umsonst eine Wärmeeinheit, denn wir brauchen die Energie vor allem, um unseren Körper bei 37 Grad zu halten. Zweitens versucht der Organismus, unerwünschte Stoffe zu vermeiden, namentlich Abwehrstoffe der Pflanzen gegen Fraßfeinde wie Motten, Mäuse oder Menschen. Pflanzen können nicht weglaufen, deshalb bilden sie Dornen oder wehren sich wie das Vollkorn mit Stoffen, die Bauchweh verursachen. Und drittens suchen wir natürlich Stimmungsmacher wie beispielsweise Opiate. Wenn uns ein Essen immer wieder gut schmeckt, dann nicht, weil da schönes Silberbesteck liegt, sondern auch, weil es Laune macht. Wir trinken morgens Kaffee ja auch nicht nur, um munter zu werden, sondern vor allem, weil das Coffein bei vielen Morgenmuffeln die schlechte Laune vertreibt.

Und da sind Opiate im Spiel?
Pollmer: Viel öfter als man glaubt. Nehmen Sie das unschuldige Glas Milch, das manche Menschen am Abend zum Einschlafen brauchen. Im Eiweiß der Milch steckt ein sogenanntes Casomorphin, und das beruhigt manche. Es wirkt aber nicht bei allen, weil das davon abhängt, ob die individuellen Rezeptoren passen. Psycho-Stoffe finden sich überall im Essen, von der Banane über den Ketchup bis zum Weizen. Die Alltagsküche gilt meist der Entgiftung von unerwünschten Stoffen, deshalb kochen wir Bohnen, deshalb schälen wir Kartoffeln; die Festtagsküche dient zusätzlich der Bildung von Stimmungsmachern. 
Das uns ja schon im nächsten Monat bevorstehende Weihnachtsgebäck kommt sozusagen aus der traditionellen Drogenküche. Nehmen wir die allseits beliebten Lebkuchen. Sie werden nicht wie alle anderen Kuchen mit Backpulver gelockert, sondern mit Hirschhornsalz. Und da ist Ammoniak drin, der beim Erhitzen im Ofen mit den reichhaltig vorhandenen Aromastoffen in den typischen Lebkuchengewürzen reagiert. Und dabei entstehen Amphetamine, also stark stimmungsbeeinflussende Stoffe. Die Amphetamine selbst schmecken nach gar nichts. Aber wenn unser Körper ihr Vorhandensein anhand ihrer Wirkung bemerkt, dann entwickelt er einen Appetit auf das Produkt – egal wie es schmeckt. Aber je mehr der Körper bekommt, was er will, desto besser schmeckt es uns.

Wir essen nicht, weil es uns gut schmeckt?
Pollmer: Wie schmeckte denn das erste Glas Weißbier? Vermutlich bitter, sauer und es roch noch dazu ein wenig nach Erbrochenem. Aber mit der Zeit werden genau diese Eigenschaften nicht mehr vom Biertrinker wahrgenommen. Vielmehr erkennt er daran ein gutes Weizen. Langfristig ist das, was uns schmeckt, das Ergebnis einer Rückkopplung. Der erste Geschmackseindruck hat wenig Einfluss darauf, ob wir ein Lebensmittel auf Dauer mögen. Der Körper regelt das über das zenterale Nervensystem, das sogenannte Darmhirn, manchmal auch als „second brain" bezeichnet. Labortiere, denen man die Geschmacknerven durchtrennt hatte, fraßen übrigens genau, was sie brauchten. So sind Nudeln, Pizza und Gebäck auch dank der Opiate, die im Mehl stecken, pharmakologische Trostpflaster. Aber sie wirken nicht bei allen Menschen gleich.

Thema Alkohol, was ist da wo verborgen?
Pollmer: Alkohol befindet sich in geringer Menge in zahlreichen Lebensmitteln, man braucht sich ja nur bei den „trockenen" Alkoholikern umzusehen. Warum wohl konsumieren sie wohl so gerne Bananen oder Fruchtsäfte? Da ist nicht nur ein klein wenig Alkohol drin – in reifen Bananen sogar bis fast ein Prozent -, sondern auch etwas Methanol, das offenbar stärker als gewöhnlicher Alkohol wirkt. Dazu kommt aber noch etwas: Acetaldehyd (sprich: Azeht-Aldehyd). Denn im Körper wird der Alkohol zum Acetaldehyd umgewandelt, und der erst sorgt für die psychotrope Wirkung. Und Acetaldehyd ist in manchen Lebensmitteln wie Orangensaft reichlich enthalten. Dann trinken die halt mehr davon und können so den fehlenden Alkohol bis zu einem gewissen Grade kompensieren. Andere trinken reichlich Cola. Da ist dann auch noch Myristicin enthalten, das wird dann von der Leber in ein Amphetamin umgewandelt. Leider kann man darüber in der Öffentlichkeit schlecht diskutieren, denn hier weht der Zeitgeist, und der bläst jeden vernünftigen Gedanken aus den luftigen Oberstübchen von „Suchtexperten" und anderen Volksbeglückern.

Die Lust auf das Kochen soll aber niemand bei Ihrem Buch vergehen…?
Pollmer: Die Kochkunst ist integraler Bestandteil der menschlichen Kultur, durch den Verzehr zubereiteter, gekochter Nahrung unterscheidet sich der Mensch ja auch vom Tier. Viele der psychotropen Substanzen entstehen erst beim Kochen. Gleichzeitig werden schädliche Stoffe beseitigt. Denken Sie nur an das Frittieren von Kartoffeln. Das zerstört zuverlässig deren natürliche Gifte, vor allem das alpha-Chaconin, das gerade für Kinder riskant ist. Man kriegt das allerdings nur mit der Fritteuse kaputt, kochen reicht dafür nicht. Deshalb lieben Kinder Pommes – einfach weil es für sie die gesündere Wahl ist. Die Verfahren der traditionellen Küche haben ihre Gründe. Gerade in der gehobenen Küche geht es ja darum, stimmungsbeeinflussende Stoffe zu erzeugen. Wer mal in einem wirklich guten Restaurant ein Mehrgängemenü über ein paar Stunden genossen hat, kennt das Gefühl danach: Man lehnt sich ganz entspannt zurück und ist mit sich und der Welt eins. Das ist Chemie vom Allerfeinsten. Aber das ist reines Erfahrungswissen der Köche und Köchinnen. Erst jetzt entdeckt die Wissenschaft nach und nach den Sinn.

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Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker und Fachbuchautor zur Ernährung, ist durch kritische und provokante Aussagen zu Ernährungsempfehlungen bekannt geworden ist. Hier vier seiner elf Titel: „Prost Mahlzeit! Krank durch gesunde Ernährung", „Vorsicht Geschmack. Was ist drin in Lebensmitteln?", „Lexikon der populären Ernährungsirrtümer. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker", „Pillen, Pulver, Powerstoffe. Die falschen Versprechen der Nahrungsergänzungsmittel".
Pollmer studierte Lebensmittelchemie an der Universität München. Seit dem Jahre 1981 arbeitet er als selbstständiger Wissenschaftsjournalist und Dozent. Seit 1995 ist er wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e. V. (EU.L.E.). Er veröffentlicht regelmäßig Artikel in Zeitschriften und tritt in Fernseh- und Hörfunkdokumentationen auf. Unter dem Titel „Mahlzeit" hat er seit Jahren eine Radio-Kolumne im Deutschlandradio Kultur. Pollmer ist Mitglied im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung und lebt in Gemmingen bei Heilbronn.

Aus: Lion 10/2010, S. 40/41

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